Unser Verein, der "Freundeskreis István Tisza e. V." wurde von Studenten der Universität Eötvös Loránd in Budapest im Jahr 2000 gegründet. Unser Ziel ist die Zusammenarbeit um eine reale und gerechte Darstellung der Persönlichkeit des ungarischen Politikers und Ministerpräsidenten István Tisza. Wer war denn Graf István Tisza? Dabei hilft uns das Vorwort einer Publikation aus den 1920ern, als seine Briefe, die er während des Ersten Weltkrieges geschrieben hat, in deutscher Sprache veröffentlicht wurden. Wir hoffen, daß alle unserer Leser verstehen, daß obwohl einige Ausdrücke und Formulierungen heute - ganz recht - kaum mehr benutzt werden, wir wollten das Originale zitieren. (Graf Stephan Tisza. Ungarischer Ministerpräsident. Briefe (1914-1918). Nach der von der Ungarischen Akademie der Wissenschaften veröffentlichten Originalausgabe herausgegeben und mit einer Einleitung versehen von Oskar von Wertheimer. Reomar Hobbing Verlag, Berlin, 1928. 9-35. S.)


    Präsidium der Freundeskreis István Tisza e. V.


    Oskar von Wertheimer: 


    Stefan Tisza als Persönlichkeit und Staatsmann1


    Graf Stefan Tisza war der größte Staatsmann, den Ungarn seit Graf Julius Andrássy dem Älteren hervorgebracht und der entscheidenden Einfluß auf die Leitung der österreichisch-ungarischen Monarchie ausgeübt hatte.Ob man ihn als Mann der Öffentlichkeit oder als Erscheinung für sich allein wertet, immer wirkt er mit der Wucht einer außergewöhnlichen Persönlichkeit, immer erregt die Größe seiner Pläne, die Entschlossenheit seiner Unternehmungen, die Reinheit seines sittlichen Wollens Bewunderung und Staunen. Für Deutschland und Europa ist er heute nur der, der am tatkräftigsten im Weltkrieg den Widerstand der Habsburgischen Monarchie gegen ihre Feinde leitete. Die Kunde seiner Ermordung im Oktober 1918 verhallte nicht ungehört selbst im Donner der Kanonen, im Triumphgeschrei der Sieger, im Stöhnen der Besiegten, im chaotischen Lärm einer zusammenbrechenden Welt. 

    1) Hierfür wurden folgende kleinere selbständige Arbeiten über Graf Stefan Tisza benützt: Albert von Berzeviczys Einführung in die Gesamtausgabe der Werke des Grafen Stefan Tisza (ungarisch); Eugen von Balogh "Gedenkrede auf Stefan Tisza", mitgeteilt in der "Budapesti Szemle" ("Budapester Revue") 1920 Mai-Juni-Heft (ungarisch); David Angyal "Graf Stefan Tisza" ("Neue österreichische Biographie", 1923); Wilhelm Fraknói "Die ungarische Regierung und die Entstehung des Weltkrieges", 1919;
    Arthur Weber "Graf Tisza und die Kriegserklärung an Serbien" ("Die Kriegsschuldfrage", III) 1925.


    Allein Tisza war mehr als der mächtigste politische Führer Ungarns und der Monarchie im Weltkriege, mehr als neben Feldmarschall Conrad der treue Paladin des greisen Franz Josef I. im letzten Kampfe seiner Staaten. In Wahrheit war er eine der großartigsten Verkörperungen des Genius der ungarischen Rasse, der stärkste Ausdruck des ungarischen Staatsgedankens, des Lebenswillens der ungarischen Nation. Ein Mensch von großem Format war er, dessen Laufbahn nicht nur in der Geschichte Ungarns tiefe Spuren hinterließ, sondern der auch in der österreichisch­ungarischen Monarchie eine bedeutende Rolle spielte und dadurch einwirkte auf die europäische Politik.

    Am 22. April 1861 wurde Stefan Tisza in Budapest geboren. Sein Vater, Koloman von Tisza, bekleidete von 1875-1890 die Würde des ungarischen Ministerpräsidenten. Seine Mutter war eine geborene Gräfin Degenfeld-Schomburg. Die Tiszas gehören dem ungarischen Mitteladel, der sogenannten Gentry, an. Koloman Tisza lehnte die ihm angetragene Erhebung in den Grafenstand ab. Sein unverheirateter Bruder Ludwig erhielt 1883 diese Rangerhöhung, die 1897 durch königliche Gnade auf dessen Neffen, also auf Stefan Tisza und seine Brüder, überging.

    Man nannte Stefan Tisza oft den Erben und Weiterbilder der Pläne und Gedanken seines Vaters. Der Sohn verehrte den Vater sehr. Beide Männer wiesen manche Ähnlichkeit miteinander auf. Sie waren beide von großer, hagerer Gestalt. Der Sohn erinnerte an den Vater in manchen Gesten und Wendungen als Redner. Gemeinsam war ihnen die Überzeugung von der Notwendigkeit einer starken, treuen Partei, auf die sich die Regierung stützen könne. Im Kern ihrer Naturen jedoch unterschieden sie sich voneinander völlig. Koloman von Tisza war ein geschmeidiger, kluger, behutsamer Mensch, der immer gerne einen Ausgleich mit dem Gegner erstrebte. Stefan Tisza wiederum suchte den Kampf, blieb, wenn er etwas für notwendig erachtete, darin unnachgiebig und wich nicht vom Platze. Entschieden war der Sohn, sowohl was die Persönlichkeit als auch was die Größe und Weite seiner Ideen betrifft, dem Vater überlegen. Koloman von Tisza wußte das auch. Der Vorleserin der Kaiserin und Königin Elisabeth, Ida Ferenczi, sagte er, als er sich nach seinem Rücktritt von ihr verabschiedete: "Mein Sohn ist noch ein ganz anderer Mann wie ich."


    Treu blieb Stefan Tisza stets der Atmosphäre des väterlichen Hauses, in dem er aufgewachsen war. Die Reinheit des Familienlebens, die echte Gläubigkeit, die strenge Lebensauffassung, die Selbstverständlichkeit, im öffentlichen Leben dem Vaterland zu dienen, das ging auf Tisza, obwohl es ihm auch angeboren war, zugleich als Vermächtnis des Vaterhauses über. In der Schule wurde er von allen Seiten als ein Knabe von rascher, durchdringender Auffassung bezeichnet. Mit 16 Jahren, nachdem er das Gymnasium absolviert hatte, ging er gemäß der ungarischen Tradition für einige Semester in das Ausland. Im Jahr 1877/78, also zur Zeit des Berliner Kongresses, besuchte er die Universität in Deutschlands Hauptstadt. Die große, mächtige Entwicklung, die sittliche Strenge und Disziplin, die er im Deutschen Reich traf, übten auf den frühreifen Jüngling einen bleibenden Eindruck aus. Für Bismarck hegte Tisza stets die größte Verehrung. Seine Abhandlung "Von Sadowa bis Sedan" ist als Huldigung für Bismarck gedacht. Unrichtig ist dagegen, daß er in Bismarck sein Vorbild sah, dem er nachstrebte. Dazu war er eine zu selbständige Persönlichkeit und fühlte sich zu sehr als Ungar, um in fremden Staatsmännern, mochten sie noch so gewaltig sein, sein Ideal zu erblicken. Das Wintersemester 1879 absolvierte er in Heidelberg. In der Zeit seines Aufenthaltes in Deutschland wurde in ihm die Überzeugung groß, daß Österreich-Ungarn in Verbindung mit dem Deutschen Reich eine gesicherte Zukunft vor sich habe. 

    Die Erregtheit des öffentlichen Lebens in Frankreich sagte dem jungen Tisza wenig zu. Dagegen empfing er bedeutende Eindrücke in England. In der Nationalökonomie wirkte Ricardos Lehre nachhaltiger auf ihn als die Adolf Wagners. Seine Ansichten über Parlamentarismus sind in England mitgebildet worden. Das blieb von Wichtigkeit für seine ganze spätere Laufbahn. Denn im Mittelpunkt der Kämpfe, die er in der inneren Politik führte, stand auch das Parlament. Auf das Verfassungsleben Englands pflegten die ungarischen Staatsmänner von jeher hinzuweisen. Stets wurden Parallelen in der Entwickelung der Konstitutionen beider Länder gezogen. Durch die Goldene Bulle hatte der ungarische Adel, der bis 1848 die eigentliche Nation bildete, bereits 1222, also sieben Jahre nach der Magna Charta Englands, verfassungsmäßige Rechte erhalten. Kein anderes Volk in Europa, außer den Engländern, besaß ein so ausgebildetes Verfassungsleben wie das an Zahl geringe ungarische. Allerdings hatte dies zur Folge, daß die Öffentlichkeit die Bedeutung sozialer Fragen nicht genügend erfaßte.

    Im Alter, in dem andere das Gymnasium zu beendigen pflegen, studierte Tisza bereits mit Ernst und Gewissenhaftigkeit die Institutionen und den Charakter der großen europäischen Nationen. Den Überzeugungen, die sich damals in ihm bildeten, blieb er im wesentlichen sein ganzes Leben hindurch treu. Das beweist, wie Tisza seinen Jahren voraus war. In Budapest vollendete er seine juridischen und nationalökonomischen Studien. Dann war er für einige Zeit im Ministerium des Innern tätig und absolvierte danach das Einjährigenjahr. Der Wunsch erwachte in ihm, selbst die Soldatenlaufbahn einzuschlagen. Am Widerstand des Vaters scheiterte dieser Plan. Gewiß wäre Tisza, hätte er auch diese Karriere ergriffen, doch schließlich zur Politik übergegangen. Die Absicht allein kennzeichnet indes seine Hochschätzung militärischer Tugenden. Tätigkeit in der Verwaltung, im Komitat folgte. 1885 heiratete Tisza seine Kusine Ilona Tisza. Ein Jahr später, 1886, wurde er mit dem Programm der liberalen Partei zum Abgeordneten gewählt. Die Zeit seit seiner Rückkehr hatte er benützt, um sich weiterzubilden und für seinen Beruf vorzubereiten. Denn immer mehr war in ihm die Überzeugung erwachsen, er sei auserwählt, in der Geschichte seines Vaterlandes eine historische Mission zu erfüllen, in den drohenden Gefahren der Zukunft der Führer der Nation zu werden.


    Einer der wesentlichen Charakterzüge Tiszas ist, daß er jede Sache oder Frage des realen Lebens, mit der er in Berührung kam, genau studierte, sie von Grund auf zu erfassen trachtete, sich nicht mit oberflächlichen Kenntnissen zufrieden gab, sondern gleichsam ein Fachmann auf allen Gebieten sein wollte. Diese Denkungsweise erhellt zur Genüge die Genialität des Mannes. Gerade der geniale Kopf strebt danach, die Dinge in ihrer Tiefe, in ihrem eigentlichen Wesen zu erfassen. Flüchtigkeit, Oberflächlichkeit kennzeichnen den unbedeutenden Menschen. Freilich verleitete auch diese Ausbildung zur Vielseitigkeit Tisza zu mancher Ungerechtigkeit und zu manchem Fehler. So behauptete er, nicht zur Herabsetzung, sondern zur Darstellung der wahren Größe Bismarcks in der erwähnten Abhandlung "Von Sadowa bis Sedan", der deutsche Staatsmann habe absichtlich die Frage der spanischen Hohenzollernkandidatur aufgeworfen, um den Deutsch-Französischen Krieg hervorzurufen …. die neueste Forschung hat seine Behauptung völlig widerlegt.


    Tisza wählte als Gegenstand der ersten Abhandlung, mit der er vor die Öffentlichkeit trat, die Theorie der Steuerübertragung. Sodann schrieb er über Agrarpolitik, Valutafragen, über Fleischpreise, über den Rückgang der Getreidepreise. Alle Zweige des öffentlichen Lebens studierte er eingehend. Die Art, wie die Menschen der verschiedenen Klassen lebten, arbeiteten, wie sich der Staat aufbaute und gliederte, suchte er aus eigener Anschauung zu erfassen. Dadurch erwarb er sich tiefe Einblicke in die Grundlagen der Existenz der Nation. Seine stupende Kenntnis der Detailfragen der Verwaltung war die Folge dieses unermüdlichen Studiums. Dieser Teil seiner Tätigkeit ist gewiß nicht weniger wichtig als seine Stellungnahme zu den großen politischen Fragen. Ein solches Eindringen in Materien verschiedenster Art war nur bei stärkster Tätigkeit möglich. Tisza war auch ein gewaltiger Arbeiter. Es scheint, als habe er das Empfinden gehabt, er versäume in den Minuten der Muße eine Pflicht. Auch das ist ein Zeichen seiner Größe. Er war reich genug, um wie ein Herr leben zu können, doch in dem Wirken für die Nation erblickte er seine Aufgabe, und dieser widmete er sich ganz. Schon während seiner ersten Ministerpräsidentschaft (1903-1905) sagte Franz Josef I., der doch selbst einer der pflichtgetreuesten Menschen war, zu ihm, er solle sich schonen und lieber andere etwas für sich tun lassen. Namentlich Tiszas Arbeitsleistung zur Zeit des Krieges ist ungeheuer. Er arbeitete auch mit ungewöhnlicher. Schnelligkeit. Diese Fähigkeit, eiserne Nerven und ein glänzendes Gedächtnis machen die quantitative Größe seiner Leistungen allein verständlich. Er kannte, gleich seinem Vater, alle eingebrachten Gesetzentwürfe wenigstens so genau, wie der betreffende Fachminister. Wie sehr er die verschiedensten, auch ihm fremden Gebiete zu erfassen verstand, erhellt aus einem Brief, den er über die schwere Verwundung und den bedrohlichen Zustand seines Bruders Ludwig im Kriege an seinen eigenen Sohn schrieb. Darin schildert er, gewiß auf Grund ärztlicher Berichte, doch so, daß man erkennt, er habe selbst über die Dinge und Zusammenhänge genau nachgedacht, die Art und den Zustand der Wunde, die Vorgänge und möglichen Folgen, bis ins kleinste Detail, so daß man glauben könnte, den wohlüberlegten Bericht eines sachverständigen Mediziners vor sich zu haben. Auch Tiszas kriegsgeschichtliche Darlegungen und Arbeiten fanden die volle Anerkennung der Fachleute.

    Zum erstenmal sprach er 1888 im Abgeordnetenhaus. Bedeutendes Aufsehen erregte seine im darauffolgenden Jahre gehaltene Rede über die Wehrreform. Von diesem Moment an beginnt sein großer politischer Kampf. Durch seine Kenntnisse, die Entschiedenheit seiner Ansichten, wurde er bald eines der angesehensten Mitglieder der liberalen Partei. Seine heftigen, unbekümmerten Angriffe auf seine Gegner schufen ihm viel Feinde und bildeten mit einen Grund zu seiner Unbeliebtheit bei einem großen Teil der Nation.

    Welches waren oder welches wurden mit der Zeit die bedeutenden Ziele, für die Tisza mit solcher Leidenschaftlichkeit und Überzeugung focht? Worin erblickte er das Wesentliche seiner politischen Sendung?


    Der Ausgleich von 1867 hatte das Verhältnis zwischen der ungarischen Nation und ihrem König im Sinne der bestehenden Gesetze neu geordnet und festgelegt. An diesen Ausgleich schlossen sich sodann Abmachungen zwischen Ungarn und Österreich an. Der Ausgleich selbst aber ist nur ein Abkommen zwischen König und Nation. Die Fortentwicklung und Ruhe des ganzen staatlichen Lebens in Ungarn hängt ab von der Harmonie zwischen dem Herrscher und der Nation. Ein Konflikt zwischen beiden hat viel schwerwiegendere Folgen als in anderen Ländern, weil beide, der König oder, wie es in der ungarischen staatsrechtlichen Terminologie heißt, die Krone und die Nation völlig gleichberechtigte Faktoren im Verfassungsleben sind. Die heißen Kämpfe Ungarns zur Zeit Franz Rákóczys II., Josefs II. oder im Jahre 1848 hatten ihre Ursache darin, daß diese beiden Faktoren in den Fragen der Verfassung gegeneinander standen. Auch Preußen, in dem das staatliche Leben auf anderer Grundlage beruhte, hat ja im Jahre 1862 eine schwere Krisis durchgemacht, da sich die Anschauungen König Wilhelms und die des Abgeordnetenhauses in einer entscheidenden Frage widersprachen.

    Als daher in den 80 er Jahren des vergangenen Jahrhunderts in Ungarn die Theorie auftauchte, der Ausgleich von 1867 sei kein endgültiges Werk, sondern müsse fortentwickelt und ausgebaut werden, und im Anschluß daran die Forderung erhoben wurde, die ungarischen Truppen der gemeinsamen Armee müßten mehr im ungarisch-nationalen Sinne herangebildet werden, da wurde Tisza von tiefer Besorgnis erfaßt, daß durch eine solche Entwicklung die gemeinsame Arbeit von König und Nation aufs verhängnisvollste gefährdet würde und Krisen entstehen würden, die die Existenz Ungarns bedrohen müßten. Die Ideale des Freiheitskampfes der Jahre 1848 und 1849 waren aus der Seele des ungarischen Volkes nicht geschwunden. Die Gemeinschaft mit der Wiener Regierung, die so blutig in Ungarn gehaust und so lange dessen Freiheit unterdrückt hatte, war bei manchen Teilen des Volkes noch verhaßt. Gerade die Bauern der ungarischen Tiefebene, die Tisza so liebte und um deren Stimmen er bei den Wahlen warb, hielten fest an dem Andenken Ludwig Kossuths, des Helden von 1848, der sie aus der Leibeigenschaft befreit hatte. 1848 war das große Ideal, 1867 die große Realität des ungarischen Volkes. Aus der Überzeugung heraus, der Gedanke der Weiterbildung des Ausgleiches werde eine neue Verfassungskrise entfesseln und Ungarn nach außen schwächen, sprach der 28 jährige Tisza 1889 die wahrhaft prophetischen Worte: "Der dunkelste Zug unseres öffentlichen Lebens ist die systematisch verblendete Agitation, welche die Armee und die Nation in feindliche Lager teilt... Seit ungefähr 12 Jahren sind wir mehr oder weniger von der Gefahr eines europäischen Krieges bedroht. Wir müssen uns auf diesen Krieg noch in der Friedenszeit vorbereiten. Dieser Krieg wird kein Kinderspiel sein, es kann leicht geschehen, daß er über Leben und Tod der ungarischen Nation entscheidet." Deshalb widersetzte er sich mit aller Kraft den sogenannten nationalen Forderungen, kämpfte für den Ausbau der Armee, für eine Wehrreform. Ein Mann, der so früh und so tief die großen Notwendigkeiten seines Staates erkennt, legt ein unwiderlegliches Zeugnis seiner staatsmännischen Fähigkeiten ab. Die nationalen Forderungen suchte ein Teil der Opposition dadurch zu erzwingen, daß er beschloß, jede Reform der Armee und die Bewilligung des Notwendigsten für das Heer so lange im Parlament zu verhindern, bis der Monarch seine Wünsche erfüllt hätte. Die Geschäftsordnung des Abgeordnetenhauses bot keine Mittel, diesen Mißbrauch der Freiheit zu bekämpfen. Da auch Franz Josef I. nicht nachgab, so wurde auf diese Weise das ganze parlamentarische und staatliche Leben gelähmt. Die meisten der obstruierenden Abgeordneten handelten gewiß aus patriotischer Gesinnung, allein sie sündigten gegen die Gebote der internationalen Lage Ungarns. Der Kampf gegen die Obstruktion, ihre schließliche Niederringung bildete eine der Hauptaufgaben Tiszas. Auch in den letzten Jahrzehnten wies das alte Ungarn manche bedeutende Männer in seinem Parlament auf. Auch sie erkannten die Gefahren einer Drosselung des Verfassungslebens. Doch keiner von ihnen erfaßte diese mit der Deutlichkeit und Eindringlichkeit wie Tisza, keiner besaß den Mut, rücksichtslos und offen gegen sie aufzutreten, keiner hatte die Kraft, sie niederzubrechen. Schon 1898 war dieser bereit, das Präsidium des Abgeordnetenhauses zu übernehmen, um der Obstruktion Herr zu werden. Doch stand er damals von diesem Vorsatz auf Bitten seines Vaters und seiner Freunde ab. Als 1903 die Obstruktion wieder auflebte und der damalige Chef der Regierung, Koloman von Széll, keine Gewalt anwenden wollte, ernannte endlich am 28. Oktober 1903 Franz Josef I. Tisza zum Ministerpräsidenten. 1904 unternahm dieser den Versuch, dem Abgeordnetenhaus eine strenge Geschäftsordnung zu geben. Als die Opposition gewaltsam die Sitzungen verhinderte, löste Tisza das Parlament auf und schrieb Neuwahlen aus. In diesen unterlag er jedoch und trat im Juni 1905 zurück. Die Koalition der bisherigen oppositionellen Parteien kam zur Regierung und führte die Geschäfte des Landes bis 1910. Da wandte sich die Nation wieder Tisza zu. Dieser rief die "Nationale Arbeitspartei" ins Leben und gewann in den Wahlen im Juni 1910 die große Mehrheit der Mandate. Die Obstruktion gegen die Wehrvorlage setzte von neuem ein, doch gelang es Tisza, der damals Präsident des Abgeordnetenhauses war, allerdings mit Verletzung der äußeren Formen, 1912 die Annahme der Wehrvorlage durchzusetzen. Von welcher historischen Bedeutung diese Tat war, hat der zwei Jahre später ausbrechende Weltkrieg zur Genüge bewiesen. 1913 ernannte der Herrscher Tisza zum Ministerpräsidenten.


    In den politischen Wirren dieser Zeit hatte die Frage des allgemeinen Wahlrechts bereits eine Rolle gespielt. Die Idee, es in Ungarn einzuführen, ging von dem Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand aus. Bereits in Österreich war es ihm gelungen, durch das allgemeine Wahlrecht das Parlament politisch ohnmächtig zu machen. Nun erstrebte er das gleiche in Ungarn und suchte damit die ihm verhaßte Vorherrschaft der ungarischen Rasse zu brechen.


    In unserer Zeit ist fast überall in Europa das allgemeine Wahlrecht eingeführt. Die Zukunft muß es erweisen, ob es Völkern Glück oder Unglück brachte. Man darf zu seiner Beurteilung wahrscheinlich überhaupt keine bestimmten Regeln aufstellen, da die Verhältnisse in allen Ländern verschiedene sind. Tisza fand, daß auch in den westlichen Staaten das Niveau des Parlamentes dadurch gesunken sei. Ungarn speziell erachtete er überhaupt noch nicht als reif dafür. Er sah in dem, allgemeinen Wahlrecht infolge der besonderen nationalen Verhältnisse eine Bedrohung der ungarischen Rasse und des ungarischen Staates. Ob er hierin wirklich zu rückständig war oder richtig urteilte, wollen wir hier nicht untersuchen. Keinesfalls darf man ihn, weil er so dachte, einen Feind der ungarländischen Nationalitäten nennen. Diese suchte er durch Entgegenkommen auf anderen, praktischen Gebieten zu gewinnen. Namentlich den ungarischen Rumänen gegenüber trieb er von Anfang an bewußte Versöhnungspolitik.


    Ehe wir zur Schilderung der Haltung Tiszas vor dem Weltkrieg und während desselben übergehen, halten wir es für angebracht, seine Persönlichkeit, seine moralischen und geistigen Eigenschaften, sein Verhältnis zu verschiedenen Fragen und Problemen des Lebens eingehender zu betrachten.


    Als Persönlichkeit ist Tisza ganz geschlossen, einheitlich. Auf ihn darf man wirklich das allzu oft zitierte Wort des großen britischen Dichters anwenden: "Er war ein Mann, nehmt alles nur in allem." Dringt man in den Kern seines Wesens ein, so ist das, was sich da offenbart, die stolze unerschütterliche Männlichkeit, die Unbeugsamkeit eines großen Charakters, eines eisernen Willens. Von seinem Innern aus ist seine Natur, jede seiner Taten durchflutet, erfüllt. Sein Leben steht in strengster Harmonie mit seinem Ich. Es gibt nirgends auch nur die geringste Abweichung, den kleinsten Verrat an sich selbst. Nirgends finden wir ein Paktieren oder ein Sichgehenlassen, ein Sichabfinden. Wenige Staatsmänner des 19. Jahrhunderts weisen eine solche innere Geschlossenheit, Einheitlichkeit im Aufbau ihrer Natur auf wie Tisza.


    Auch in Augenblicken höchster Erregung blieb er immer er selbst, kaltblütig und entschlossen. Als aus der politischen Erregung heraus ein Abgeordneter der Opposition auf ihn, der damals Präsident des Abgeordnetenhauses war, schoß, leitete er die Sitzung weiter, als wäre nichts geschehen. Der Zeugen dieses Vorfalles, der Abgeordneten aller Parteien, bemächtigte sich wilde Erregung. Nur der, dem das Attentat galt, der zum Opfer ausersehen war, blieb allein ruhig.


    Eine kleine, aber vielleicht charakteristische persönliche Erinnerung an Tisza darf hier erwähnt werden. Zur Zeit, als ich Student in Klausenburg (Kolozsvár) gewesen, kam Tisza auf kurze Zeit dorthin, seine Verwandten zu besuchen. Seine Anwesenheit setzte begreiflicherweise die ganze Stadt in heftigste Unruhe. Wie der allergrößte Teil der Universitätsjugend, war auch ich ein glühender Gegner Tiszas. Bei seiner Abreise sollten sich die Demonstrationen, die die ganze Zeit hindurch angedauert hatten, noch stärker wiederholen. Ich hatte mich in der Nähe des Hauses aufgestellt, in dem Tisza während seines Aufenthaltes gewohnt und von dem aus er zum Bahnhof fahren mußte. In der Hauptstraße der Stadt, der Deakstraße, die zum Bahnhof führte, standen dichtgedrängt die Menschen, die in überwiegender Mehrzahl gegen Tisza demonstrieren wollten. Als Tiszas Wagen aus dem Hause fuhr, brach ein fürchterlicher Lärm aus. Vielleicht auf Anweisung der Polizei machte der Kutscher Miene, den Wagen in eine Seitengasse zu lenken, um unbehelligt den Bahnhof zu erreichen. In diesem Augenblick sah ich, wie Tisza zornbebend aufsprang, den Kutscher anherrschte und ihn zwang, zur Hauptstraße einzubiegen und durch die tobende Menschenmenge zu fahren. Viele unter uns Studenten stürmten hinter seinem Wagen her. Wir hatten uns verabredet, noch eine Abschiedskundgebung zu veranstalten. Irgendwie gelang es uns, in den sonst abgesperrten Bahnhof einzudringen. In einer Entfernung von etwa 20 Meter sahen wir Tisza wartend allein auf und ab gehen. Mit der ganzen Kraft unserer von politischer Empörung erhitzten Kehlen schrien wir: "Nieder Tisza!" Der also Apostrophierte hörte sich den Chorus, dessen Ruf ihm nicht ganz neu war, einen Moment an, wandte sich dann plötzlich um und ging geradewegs auf uns zu. Ich gestehe, daß wir bei diesem Anblick verstummten. Wenige Schritte vor uns blieb Tisza stehen, lächelte kurz, als er uns so versteinert sah, und setzte dann seinen unterbrochenen Weg fort. Sicherlich hatte er uns in der nächsten Minute vergessen. Wir aber verspürten keine besondere Lust mehr zu weiteren Heldentaten.


    Nach der Anschauung Tiszas wies das Leben jedem Menschen eine Aufgabe, eine Pflicht zu. Jeder sollte in irgendeiner Form dem Vaterlande dienen, ob an einer hohen oder geringen Stelle, das war schließlich gleichgültig. Männer, die ihr Ziel nur in der Entwicklung ihrer eigenen Person sahen, standen ihm fern. Auch der Künstler hatte seiner Meinung nach Aufgaben, die über das eigene Ich hinausgingen, auch sein Wirken mußte der Allgemeinheit zugute kommen. Nicht allein aus seinem kalvinischen Glauben leitete er diese schicksalhafte Auffassung her, es war eine allgemeine ethische Anschauung, die sich darin dokumentierte.


    Persönliche Eitelkeit oder persönlicher Ehrgeiz waren Tisza fremd. Nie hat er aus Machtgier, aus Freude am Ruhm danach gestrebt, der erste Staatsmann des Landes zu werden. Hätte er die Notwendigkeit erkannt, im Interesse des Landes für immer von der politischen Bildfläche zu verschwinden, er würde es ohne Zögern getan haben.


    Man warf ihm oft vor, daß er andere fähige Männer neben sich nicht aufkommen ließ, um allein zu regieren. Zuweilen hatte es wirklich den Anschein, als beabsichtige er auch während des Krieges die hochbegabten Führer der Opposition von der Mitarbeit am Staate auszuschließen. Verhinderte er jedoch deren aktive Mitwirkung, so blieben für ihn, mögen sie nun richtige oder falsche gewesen sein, nur sachliche Gründe entscheidend. Nicht richtig ist es auch, was der deutsche Botschafter Tschirschky einmal nach Berlin meldet, daß Tisza in seinen Mitarbeitern nur politische Werkzeuge sah. Mit einer Reihe von ihnen stand er in nahem persönlichen Verhältnis. Daß er in seiner Partei und in der Regierung herrschte, war eine Folge seiner Überlegenheit, seiner suggestiven Kraft. Er war eben der geborene Führer. Es ist ein Gesetz der Natur, daß alles Große das Kleinere oder auch anderes Bedeutende ringsumher am Wachstum hindert. So braucht der knorrige, gewaltig in die Höhe ragende Baum auch so viel Platz für sich, daß andere Bäume neben ihm sich nicht entfalten können. Allein der Vorwurf, er dulde nur Knechte und Vasallen neben sich, wird durch seine Briefe widerlegt. Die Ära Tiszas war auch nicht mehr wie die vorangegangene eine an Idealen reiche. Eher ist sie als eine Periode des Sinkens der inneren Kraft der Nation zu bezeichnen. Deshalb faßte Tisza seine Mission nicht nur als eine politische, sondern auch als eine moralische auf, er trachtete danach, sein Volk wieder zur Höhe früherer moralischer Anschauungen zurückzuführen, in ihm den Geist der Pflichterfüllung, der Arbeit, des lauteren Patriotismus, zu stärken. Deshalb glaubte er seine Person nicht ausschalten zu dürfen, weil er keinem anderen Politiker, mochte er seine Vaterlandsliebe, seine Fähigkeiten noch so hoch stellen, die nötige Kraft zu diesem Werke zutraute.


    Man mag jede Tat Tiszas nachprüfen, man wird nicht eine finden, bei der er aus häßlichen, abstoßenden, unedlen Motiven gehandelt hätte. Immer schwebt das Interesse der Nation als Ziel und Beweggrund vor seinen Augen. Auch ehrliche und gute Menschen sind egoistisch, ihr Charakter weist Schattenseiten auf. Selbst die reinsten Naturen sind Versuchungen ausgesetzt. Bei Tisza war das nicht der Fall. Es scheint, als ob böse Einflüsterungen sich nie an ihn herangewagt hätten. Sogar bei den kleinsten Entscheidungen betrachtet er alles von großen allgemeinen Gesichtspunkten. In den geringen alltäglichen Vorkommnissen sieht er die Zellen, aus denen sich der ganze Körper des Volkes aufbaut und denen man daher die größte Sorgfalt widmen muß. Wenn er hört, daß ein Beamter sich gegen das Volk vergangen habe und dafür nicht bestraft worden sei, gerät er in die größte Empörung, und in tiefempfundenen Worten gibt er seinem Zorn und seinem Schmerz darüber Ausdruck. In jedem solchen, auch dem kleinsten Vergehen erblickt er ein Verbrechen gegen die Nation. Immer ermahnt er die Menschen, spornt sie zur Tätigkeit an, verweist sie auf die Aufgaben, die ihrer harren. Und mit rührender Liebe, mit warmherziger Männlichkeit interessiert er sich für alle, die leiden, die unglücklich sind. Freilich wird sich das Mitleid nie zur Schwäche verdünnen, sein Gefühl wird sich nicht in nutzlosem Jammer Luft machen, der Anblick von Schmerzen wird ihn nie tatenlos, pessimistisch stimmen. Dazu war er wieder zu sehr Mann, zu produktiv und positiv gesinnt.


    Gerade an den großen Männern der Geschichte stört uns oft das Fehlen von Idealismus, der Mangel an einfachen warmen menschlichen Empfindungen, die unbegrenzte Menschenverachtung. Tisza war Idealist, reines menschliches Empfinden beseelte ihn, und er liebte sein Volk. Freilich waren alle großen Männer Ungarns im XIX. Jahrhundert, Graf Stefan Széchenyi, Ludwig Kossuth, Franz Deák, Graf Julius Andrássy der Ältere, Idealisten, deren höchstes Ziel stets das Wohl ihres Vaterlandes blieb.


    Das moderne Streben nach Mechanisierung unserer Existenz fand an Tisza keinen Förderer. Das Persönliche, Lebendige in den Beziehungen der Menschen untereinander, ihre gegenseitigen ethischen Pflichten hob er unablässig hervor. Im Krieg verkündete er, die Soldaten müßten in den Offizieren Führer und besorgte Freunde sehen. Unbegrenzt war Tiszas Liebe zu seinen Kindern. Mit fünf Jahren starb sein Töchterchen. Er konnte sich von ihrem Bild nicht trennen und hatte es immer vor sich auf seinem Schreibtisch. Außer ihr besaß er nur einen Sohn. Rührend soll es gewesen sein, wenn er mit seinen Enkelkindern spielte. Die Wahrheit ist, daß dieser starke, unerschütterliche, im öffentlichen Leben oft auch harte Mann ein edles, tiefempfindendes warmes Herz hatte.


    Bezüglich des Schicksals seines Vaterlandes war Tisza nicht optimistisch gesinnt. Im Gegenteil! "Zwanzig bittere Jahre", schrieb er an Albert von Berzeviczy, "quälte mich der Gedanke, diese Monarchie und in ihr die ungarische Nation seien zum Untergange verdammt." Dieser Satz ist überaus bezeichnend für eine ganze politische Grundstimmung. Doch seine Gläubigkeit, sein Charakter ließen einen allgemeinen Pessimismus in ihm nicht aufkommen. Er wollte nur wirken und schaffen. Reflektieren und grübeln war nicht seine Sache. Daher sind seine Briefe oder Schriften arm an Sentenzen, an Bemerkungen philosophischen Inhaltes, an Betrachtungen, die das Leben des Menschen zum Thema haben. Auch wenn er allgemein wird, bleibt er immer real, seine Erwägungen haben stets ein positives, bestimmtes Ziel. Seine Freunde behaupten von ihm, er sei kein Menschenkenner gewesen. Sein Optimismus, sonst seine Stärke, wird ihm hier zum Nachteil. Doch spricht er selbst einmal von einer "teuer erkauften Lebensweisheit". Schwer ist es zu glauben, ihm als Politiker hätte das Wissen darum gemangelt, wieviel Egoismus und Lüge oft hinter klingenden, schönen, bewundernden Worten stecken. Er verachtete die Menschen nicht, und sicher liebte er mit der ganzen Glut und Kraft seiner großen Seele seine Nation und in dieser wieder am meisten die Bauern und kleinen Landwirte der ungarischen Tiefebene, von denen er überzeugt war, sie seien die herrlichsten Menschen der Erde.


    Seine starke gesunde Natur, seine ganze Weltanschauung, seine politische Einstellung, die großen Aufgaben, denen er sich gegenübersah, seine ernste Männlichkeit machten ihn zum unerbittlichen Gegner all dessen, was dekadent, schwächlich, nihilistisch gesinnt war. Mit Recht sah er in denjenigen, die nichts konnten als verhöhnen und herabsetzen, Männer, denen die Kraft zum Bauen und Schaffen fehlte und die nun beim Zerstören ihre Freude und ihr Glück fanden. Tisza war und blieb bis zuletzt ein Feind alles Radikalen, aller zersetzenden, überlegen tuenden, ästhetischen, im Grunde hohlen, armseligen Geistesrichtungen. Sein durchdringender Blick erkannte, daß diese Bestrebungen, mochten sie sich welche Mäntelchen und Hüllen immer umwerfen, die Lebenskraft des Ungartums untergruben. Diejenigen, die 1918, als Ungarn im heroischen Kampfe unterlag, den schlimmsten Verrat begingen, dem bereits schwerverwundeten Staat den Todesstoß gaben, die Károlyi, Jászi und Genossen, sie waren es, vor denen Tisza in Reden und Schriften immer schon eindringlich gewarnt und vor deren verderblichem Wirken er seine Nation zu bewahren getrachtet hatte.


    Sehr bezeichnend ist in dieser Hinsicht sein Gegensatz zum größten modernen Lyriker Ungarns, zu Andreas Ady. Ady, den der ungarische Historiker Szekfü den Sänger der Anarchie und kranken Dekadenz nennt, entstammte einer alten ungarischen Adelsfamilie und war in seinen Urgründen, in seinen Elementen ein echter Ungar. Und doch hat er die ungarische Gesellschaft seiner Zeit gehaßt und verspottet und insbesondere Tisza heftig angegriffen. Tisza blieb dem Dichter die Antwort nicht schuldig. Er warf ihm vor, daß er nicht national gesinnt sei und die seelische Anarchie verbreite. Er konnte und wollte nicht wahrhaben, wie ungarisch Ady trotz der Tünche der Internationalität in seinem Wesen blieb. Er erkannte als Staatsmann nur die verderbliche Wirkung seiner aufhetzenden, gefährlichen Worte auf die Nation, für deren Existenz er einen Riesenkampf führte. Aus den klingenden oder verzerrten Versen dieses genialen Dichters hört Tisza nur das Negierende, Zerstörende, Dekadente heraus. Ady, von tausend Schauern und Qualen verfolgt, von einer schrecklichen Krankheit ergriffen, melancholisch, haltlos, ein Feind aller bürgerlichen Ordnung, unstet, halb Pariser, halb Budapester, nur in den verschütteten tiefsten Gründen seiner Seele selbstbewußter ungarischer Edelmann – und Tisza, erfüllt von der Verantwortung für die ganze Nation, in sich selbst gefestigt, ein Staatsmann, der aus seinem Beruf heraus nur an die Allgemeinheit, kaum an sich selbst denkt, wahrhaft gläubig, ein Hüter der bürgerlichen Ordnung: Diese beiden Männer konnten einander nicht verstehen, mußten einander feindlich entgegentreten.


    All die besonderen oder allgemeinen menschlichen Eigenschaften, die wir bisher an Tisza rühmten, waren durchtränkt, durchwoben von ungarischem Empfinden, ungarischer Art. An allgemeiner Bildung überragte er die meisten seiner Landsleute, und dennoch war er in seiner ganzen Gedankenwelt rein ungarisch. Seine Intelligenz, seine Willensstärke, sein Pflichtgefühl haben alle den besonderen ungarischen Charakter. Ein Leben, das nicht der Nation geweiht gewesen wäre, hätte er sich gar nicht vorstellen können. Sein ganzes Dasein erhielt erst Sinn und Bedeutung durch die aufopfernde Arbeit für das Vaterland. Obwohl ihm ein starkes ungarisches Herren-bewußtsein eigen war, fühlte er sich doch zum einfachen ungarischen Volk hingezogen. Noch in späteren Jahren konnte er mit leuchtenden Augen davon erzählen, wie er in seiner Jugend an Sommerabenden lange Gespräche mit Arbeitern und Bauern führte. Einmal als junger Mensch eilte er mit der ganzen Dorfbewohnerschaft in der Nacht in eine entfernte Gemeinde, um dort beim Löschen eines Brandes zu helfen. Bei einer Choleraepidemie pflegte er selbst die kranken Dorfarbeiter. Wie nahe er dem einfachen Volke stand, wie er zu ihm reden konnte, beweisen auch zahlreiche der hier mitgeteilten Briefe.


    Tisza war echt und tief religiös. Er betonte die Notwendigkeit eines lebendigen Glaubens. Dabei war er nichts weniger als ein Fanatiker, hielt sich frei von konfessionellen Vorurteilen, stand keinem anderen Glauben feindselig gegenüber. Professor Angyal verweist Tisza, was wesentliche Elemente seines Charakters betrifft, mit Recht in die Reihe der bedeutenden Staatsmänner der kalvinischen Lehre, zu Gaspard Coligny, Oliver Cromwell, Jan de Witt, Guizot.


    So wie Tisza das Äußerliche gering achtete, alles nur um der Sache willen tat, strebte er auch nie nach Popularität. Diese gewann er erst durch den Ausbruch des Krieges. Schwer war es ja auch für ihn, die allgemeine Begeisterung der Nation zu gewinnen. Kämpfte er doch gegen zu viele echte oder eingebildete Ideale. Er war streng, gegen sich wie andere, ermahnte, forderte und sprach von den großen Notwendigkeiten des nationalen Lebens. Jahre hindurch blieb er einer der bestgehaßten Menschen in Ungarn. Große Teile der Nation verkannten ihn lange, sahen in ihm nur den Tyrannen, gegen den sich der alte Unabhängigkeitssinn und Liberalismus des ungarischen Volkes empören mußten. Wie sehr ihm sein Widerstand gegen die nationalen Forderungen bei all denjenigen schadete, die festhielten an den Überlieferungen des Jahres 1848, ist leicht zu verstehen. Daß ihn die Ablehnung des allgemeinen Wahlrechtes beim unteren Volke, besonders in Budapest, wo die Radikalen und Sozialdemokraten größeren Anhang besaßen, nicht beliebt machte, ist begreiflich. Auch aus persönlichen und religiösen Motiven entstanden ihm viele Gegnerschaften. Im Mai 1914 berichtet Tschirschky an Staatssekretär Jagow: Tiszas Stellung in der Gesellschaft sei eine sehr schwierige. Besonders die Damen der tonangebenden Familien bekämpften ihn fanatisch. Er selbst wiederum tue nichts, um diesen Haß zu mildern.


    Nach außen hin verriet Tisza wohl nie, ob er unter diesen Feindschaften litt. Schwankend, unsicher in seinen Plänen und Entschlüssen machten sie ihn niemals. Als im Kriege, 1915, ein Lehrer wegen irgendwelcher Äußerungen von einem oppositionellen Abgeordneten im Parlament heftig angegriffen wurde, erwiderte er: "Einen unglücklichen Lehrer während des Weltkrieges angreifen, weil er seine persönliche und unliebsame Meinung nicht verschwieg, ist nicht schicklich. Wenn man jemanden angreifen will, nun so bin ich ja da. Etwas mehr oder weniger schadet mir nicht." Der Stolz, die Ritterlichkeit in dieser Äußerung ist unverkennbar. Klingt aber nicht auch versteckter Schmerz über die unentwegten Angriffe seiner Gegner aus ihr heraus? So wie in diesem Falle bewog ihn sein unbeugsamer Gerechtigkeitssinn stets dazu, ungerecht Beschuldigte zu verteidigen.


    Im gewöhnlichen Sinn war Tisza kein glänzender Redner. Er hatte keine klangvolle, modulationsfähige Stimme. Seine Reden machten dennoch durch die suggestive Macht seiner Persönlichkeit, durch die Wärme seiner Überzeugungskraft, durch die Stärke seiner Gedanken, großen Eindruck. Bewußt vermied er rethorisches Beiwerk. Dagegen war er ein glänzender, gefürchteter Debatter. In ein bis zwei Sätzen brachte er dem Gegner tödliche Wunden bei. Auch als Schriftsteller ist er interessant. Er schreibt gerne, doch ließ ihm seine übrige Tätigkeit nicht viel Zeit dazu. So geben seine Schriften eher Erweiterungen und Erläuterungen seiner politischen Unternehmungen. Zur Zeit seiner zweiten Ministerpräsidentschaft gründete er ein Blatt, in dem er selbst in einfachen, klaren Artikeln zum Volke sprach. In einer Zeitschrift, dem "Magyar Figyelő" ("Ungarischer Beobachter"), deren Ausgabe auch er veranlaßte, schrieb er häufig Aufsätze über die verschiedensten Fragen des öffentlichen Lebens. Sein Stil ist echt ungarisch, einfach und klar. Unter den ungarischen Dichtern war der Epiker und Balladendichter Johann Arany sein Liebling. Von ihm wußte er viel auswendig und zitierte es gerne. Den bildenden Künsten stand er ziemlich fremd gegenüber. Wunderlich ist sein Verhältnis zur Musik. Nur die ungarischen Volkslieder und Beethoven bewunderte und liebte er. Andere Musik ließ ihn kalt.


    Die Frage, ob er politisch zu den Liberalen oder zu den Konservativen gezählt werden soll, wurde wiederholt aufgeworfen. Er selbst bezeichnete sich als Liberalen. Doch ging er in seiner Politik nicht von Theorien aus, sondern von den realen Bedürfnissen der Nation. In wirtschaftlicher Hinsicht kann man ihn als Anhänger des nationalökonomischen Individualismus betrachten. Die Gegensätze zwischen Landwirtschaft, Gewerbe und Handel wollte er demgemäß nicht gelten lassen. Er trat ein für eine bessere Existenz der Arbeiter, für ihren wirtschaftlichen Schutz. Jede Art von Kollektivismus lehnte er ab. Ein moderner wirtschaftspolitischer Staatsmann war er nicht. Die Erklärung seiner Anschauungen liegt in der wirtschaftlichen und nationalen Struktur Ungarns. Eine überstürzte industrielle Entwicklung in Ungarn vor dem Kriege hätte für das Gesamtleben des Volkes bedenkliche Folgen haben müssen. Man durfte die wirtschaftlichen Lehren, die in Deutschland oder England ihre volle Berechtigung hatten, nicht auf Ungarn anwenden. Die Zahl der selbständigen Kleinbauern suchte Tisza zu vermehren. Zugleich setzte er sich aber auch für die Erhaltung der Fideikommisse ein, da "jeder verfallene Herrensitz die Position des Ungarntums schwäche". Seine wirtschaftlichen Ansichten fügten sich in den Rahmen seiner nationalen Politik.


    Es ist ein tragischer Umstand, daß er, der deutlich darauf hinarbeitete, im Rahmen der Monarchie Ungarn zum führenden, ja zum herrschenden Machtfaktor zu machen, stets deshalb so heftig angefeindet wurde, weil er angeblich nationale Rechte preisgab. Tisza schätzte Österreichs politische Kraft sehr gering, vielleicht zu gering ein. Allein ihm, dem Mann der Ordnung, der aufbauenden staatlichen Tätigkeit, mußten die unaufhörlichen nationalen Streitigkeiten, die Zerrissenheit Österreichs, das "Fortwursteln" ein Greuel sein und ein warnendes Beispiel, Ungarn vor Österreichs Schicksal zu bewahren. Aus seinen Briefen geht hervor, daß er die Absicht hatte, nach der glücklichen Beendigung des Krieges die Vorherrschaft Ungarns in der Monarchie, die ihm als eine geschichtliche Notwendigkeit erschien, noch mehr auszugestalten. Zweifellos wollte er das nicht durch eine Änderung des Ausgleiches erreichen, sondern ein in den Tatsachen, nicht in den Gesetzen beruhendes Übergewicht schaffen. Ihm war es ja immer mehr um den Inhalt, als um die Form einer Sache zu tun. So hat er es als selbstverständlich betrachtet, daß er mit denjenigen Staatsmännern der Monarchie, die nicht ungarisch sprachen, deutsch korrespondierte und die Verhandlungen in Wien deutsch führte. Als dieser Umstand bekannt wurde, griff ihn die Opposition in Ungarn heftig an. Aber was focht es Tisza an, wenn die Sprache, in der er verhandelte, die deutsche, doch der Geist, in dem alles geschah, der ungarische war? Tisza wollte die ungarische Nation so stark und einig, nicht nur damit sie in Ungarn selbst, sondern auch, damit sie in der Monarchie herrsche. Die Interessen des Ungarntums erschienen Tisza immer gleichbedeutend mit denen der Monarchie. Freilich immer vom Gesichtspunkt aus, daß Ungarn die politisch stärkste Macht in ihr sei. Er sah also die Basis, auf der sich die Interessen Ungarns, der Monarchie, des Herrschers miteinander vereinigten. Ob diese Politik nicht zu sehr auf Kosten Österreichs gegangen wäre? Jedenfalls war es eine große Konzeption, die Tisza, vielleicht noch in nicht ganz deutlichen Umrissen, aber gewiß in sich trug. Der unglückliche Ausgang des Krieges hat diesen sowie manchen anderen Plan begraben.


    Auf die Frage, ob Tisza auch bedeutend und schöpferisch in der Außenpolitik gewesen, können wir hier nur im Zusammenhang mit seiner Haltung bei Kriegsausbruch eingehen. Längst ist die Fabel widerlegt, Tisza habe zum Kriege gehetzt, sei die treibende Kraft zum scharfen Vorgehen gegen Serbien gewesen. Alle Veröffentlichungen und Dokumente beweisen unwiderleglich, daß er in voller Klarheit und Deutlichkeit gegen die Absicht Berchtolds Stellung nahm, "die Greueltat in Sarajevo zum Anlasse der Abrechnung mit Serbien zu machen". Gegenstand einer eigenen Arbeit soll es werden, die Haltung der leitenden Männer der Monarchie und Deutschlands zum Kriege im einzelnen darzulegen. Hier handelt es sich nur um Tiszas Rolle in diesen Ereignissen.


    Daß die Agitation der Serben, die Politik Rußlands darauf gerichtet war, die Monarchie zu zerstören, kann kein ernster Mensch leugnen. Über allem Zweifel erhaben war das Recht zur Verteidigung gegenüber solchen Bedrohungen. Damit, daß die Monarchie Serbien zum Kriege zwang, war indes politisch nichts geleistet. Man mußte sich die Frage vorlegen, wie sich dieser Krieg gegen Serbien auswirken würde. Die Lage auf dem Balkan war damals für Österreich-Ungarn die denkbar ungünstigste. Rumäniens Abneigung gegen die Monarchie war bekannt. Bulgarien, besiegt und geschwächt in den Balkankriegen, hatte noch keine bestimmte politische Orientierung. Griechenland stand dem Dreibund, trotz seines Königs, politisch fern. Die Monarchie blieb auf dem Balkan allein. Hinter Serbien erhob sich dagegen drohend und ungeheuer die Macht Rußlands. Unzweifelhaft scheint es, daß den Schlüssel für Berchtolds Stellungnahme – sofern es einen solchen überhaupt gibt – seine völlig irrige Anschauung über die militärische Bereitschaft Rußlands bildete. Er dachte, Rußland werde sich jetzt genau so in das Unvermeidliche fügen wie 1908. Die Ansicht, daß Rußland militärisch nicht vorbereitet sei, muß in den maßgebenden Kreisen eine allgemeine gewesen sein. Auch Baron Burián, damals noch Vertreter der ungarischen Regierung bei Franz Josef I. in Wien, erklärt am 29. Juli 1914: Rußlands Bereitschaft sei nur eine halbe Bereitschaft, und man müsse die erste kostbare Zeit nützen. Ebenso meldet der österreichisch-ungarische Botschafter in Berlin, Graf Szögyény, man sei in Berlin der Ansicht, Rußland werde nicht Krieg führen, und falls es das doch täte, sei es nicht kriegsbereit. Waren die Generalstäbe an diesem Irrtum schuld? Wußte Baron Conrad nicht, daß Rußland seine Riesenarmeen so geschwind an die Grenze werfen konnte?


    Es ist noch nicht völlig geklärt, wieso Tisza, der wiederholt und in der schärfsten Form sich gegen Berchtolds Politik ausgesprochen hatte, dennoch schließlich dem Ultimatum zustimmte. Noch im Ministerrat vom 7. Juli war er entschieden gegen den Krieg, ebenso im Memorandum vom 8. Juli. Aber schon im Ministerrat am 19. Juli gab er, freilich unter der Bedingung, es müsse beschlossen werden, die Monarchie führe keinen Eroberungskrieg, seine Zustimmung zu den strengen Forderungen an Serbien, die den Krieg bedeuteten. Was hatte sich inzwischen ereignet, das Tisza bewog, seine Anschauungen so vollständig zu ändern?


    Aus den veröffentlichten Akten geht hervor, daß Berchtold durch geflissentliche Übertreibung der Behauptung, Deutschland fordere unbedingt von der Monarchie entschiedenes kriegerisches Vorgehen in Serbien, auf Tisza zu wirken suchte und auch tatsächlich wirkte. Ungenau und deshalb verwirrend war des österreichisch-ungarischen Botschafters, des Grafen Szögyénys, Berichterstattung in dieser Zeit. Darauf wies schon Goos in seiner Publikation "Das Wiener Kabinett und die Entstehung des Weltkrieges" hin. Nicht ganz klar ist auch die Rolle des deutschen Botschafters in Wien. Tschirschky sprach ursprünglich gemäßigt, warnte vor Rumänien und Italien. Dann aber schlug er in Wien entschiedenere Töne an. Wem war die Sprache beider Botschafter willkommener, als Graf Berchtold? Konnte man Tisza umstimmen, so nur durch eine Macht: durch Deutschland. Auf dessen Haltung legte er stets den größten Wert. In diesem Intrigenspiel bewies Berchtold ein Talent, das ihm sonst abging. Er verstand es, die ganze Sache geschickt einzufädeln. Überall erzählte er klagend, Tisza hindere ihn daran, energisch gegen Serbien vorzugehen. Dadurch erreichte er, daß alle diejenigen, die den Krieg wollten, Tisza bearbeiteten, sich nicht allein dem allgemeinen Verlangen, zu widersetzen. Daneben suchte er auch auf andere Weise Tisza umzustimmen. In einem Tagesbericht vom 4. Juli wird mitgeteilt, daß Tschirschky seine Meinung, Deutschland werde durch dick und dünn mit Österreich-Ungarn gehen, da er sie Berchtold nicht selbst sagen konnte, einem Vertrauensmann mitgeteilt hätte in der deutlichen Absicht, daß dieser sie Berchtold weitergäbe. Ob diese Behauptung der Wahrheit entspricht, ist nicht erwiesen. Tatsache bleibt, daß Berchtold diesen Bericht Tisza übermittelte, um ihn zu beeinflussen. Die schlimmste Verfälschung der Ereignisse teilte jedoch Berchtolds Brief vom 8. Juli dar. Darin schrieb er an Tisza: Tschirschky sei soeben bei ihm gewesen, von seinem Herrn beauftragt, um mit allem Nachdruck zu erklären, daß man in Berlin eine Aktion der Monarchie erwarte und man es in Deutschland nicht verstehen würde, wenn die Monarchie die gegebene Gelegenheit vorübergehen ließe, ohne einen Schlag zu führen. Aus den weiteren Ausführungen des Botschafters, fuhr Berchtold fort, konnte er entnehmen, daß man in Deutschland ein Transigieren der Monarchie mit Serbien als ein Schwächebekenntnis auslegen würde, was wieder nicht ohne Rückwirkung auf die Stellung der Monarchie im Dreibund und die künftige Politik Deutschlands bleiben müßte. Damit war Tisza an seiner verwundbarsten Stelle getroffen. Was in diesem Brief auf Berchtolds, was auf Tschirschkys Rechnung zu setzen ist, läßt sich nicht genau feststellen. Aus der ganzen Lage ergibt sich, daß Berchtold jedenfalls der Urheber des weit größeren Teiles der Übertreibungen ist. Hätte Tschirschky aber seinen ihm vom Reichskanzler erteilten Auftrag vom 6. Juli – denn nur um die Ausführung dieser Weisung kann es sich handeln – ganz genau befolgt, so hätte Berchtold unmöglich solche Behauptungen aufstellen können. Die Haltung der deutschen Regierung war oft nicht staatsmännisch und vorsichtig genug. Doch sowohl Bethmann Hollweg wie Zimmermann drückten sich zurückhaltend aus. Der Reichskanzler hat in seinem Telegramm an Tschirschky vom 6. Juli im Satz "daß Deutschland im Einklang mit seinen Bundespflichten und seiner alten Freundschaft unter allen Umständen treu an Seite Österreichs stehen werde", die Worte "unter allen Umständen" gestrichen. Jede Aneiferung der Regierung in Wien wollte er also vermeiden. Gewiß wäre es besser gewesen, er hätte entschieden von dem Vorhaben abgeraten.


    Wie Tisza selbst die Nachrichten aus Berlin bewertete, geht daraus hervor, daß er sie in dem Memorandum vom 8. Juli als "sehr erfreulich" bezeichnete. Erfreulich waren sie für ihn nicht in dem Sinne, daß sie Österreich-Ungarn zum Krieg aneiferten, denn im gleichen Memorandum spricht er ja gegen den Krieg, sondern weil er aus ihnen den Willen Deutschlands ersah, treu zur Monarchie zu halten. Überdies klingen die Worte "sehr erfreulich" durchaus nicht überschwänglich. Seltsam ist, daß Tisza auf sein Memorandum vom 8. Juli keine Antwort erhielt, daß der Monarch, der ihn so hoch schätzte, seine Ausführungen einfach ad acta legen ließ. Kam das daher, daß Berchtold, der am 9. Juli nach Ischl fuhr, sich zum "überzeugten Interpreten" von Tiszas Anschauungen machte? Hatte Berchtold auch seine Hand dabei im Spiele, daß der ungarische Ministerpräsident in den nächsten Tagen nicht zum Monarchen berufen wurde? Vom 10. Juli berichtet Conrad, Berchtold sei sehr entschlossen aus Ischl vom Monarchen zurückgekommen. Er erklärte, Tisza wäre gegen den Krieg, mahne zur Vorsicht, doch Burián sei nach Budapest gefahren zur Rücksprache mit ihm. In Ischl gewann Berchtold im wesentlichen den greisen Monarchen für seine kriegerische Politik. Gelang Burián dann das schreckliche Werk, den ungarischen Ministerpräsidenten von seiner staatsmännischen Einsicht loszureißen? Wir wissen es nicht genau, doch ist es sehr wahrscheinlich. Jedenfalls vollzog sich in der Zeit vom 10. bis zum 14. Juli der Wechsel in der Anschauung Tiszas. Der entscheidende Tag dürfte der 12. Juli in dieser Hinsicht gewesen sein. Wenigstens berichtet Tschirschky am 13. Juli nach Berlin, Berchtold hoffe morgen (also am 14. Juli) mit Tisza über die Note ins reine zu kommen. Daher mußte Berchtold an diesem Tage der prinzipiellen Zustimmung Tiszas bereits sicher sein. In der Konferenz vom 14. Juli kann es nicht mehr viel Mühe gekostet haben, Tiszas formelle Zustimmung zu dem scharfen Vorgehen gegen Serbien zu erhalten. Hier läßt er sich sogar schon überreden, auf Wunsch der Militärs die Forderungen und das Ultimatum zu einer Aktion zu verbinden, während sein ursprünglicher Vor­schlag dahin ging, zunächst bestimmte Forderungen an Serbien zu richten und erst nach deren Ablehnung das Ultimatum zu stellen. Welche Rolle die Rücksicht auf Deutschland bei seiner Stellungnahme spielte, beweist ein Brief Tiszas an Tschirschky vom 5. November 1915: "Vorerst sei betont, schreibt er darin, daß wir vor Einleitung unserer serbischen Aktion mit Deutschland zu Rate gingen und auf die direkte Ermunterung und auf die Erklärung der deutschen Regierung hin, daß dieselbe die immer drohender werdende Abrechnung günstig erachte, die Demarche in Belgrad vollzogen haben." Die deutsche Regierung hat jedoch eine solche dezidierte Erklärung nie abgegeben. Berchtolds Intrigen in erster Reihe war es gelungen, in Tisza den Glauben zu erwecken, Deutschland wolle um jeden Preis die kriegerische Aktion der Monarchie. Wie weit Franz Josefs Zustimmung zu Berchtolds Politik für Tisza maßgebend war, läßt sich nicht genau bestimmen. Daß der ungarische Ministerpräsident als "Fürstendiener" einzig deshalb, weil der Monarch eine Meinung ausgesprochen, nun auch die seine danach änderte, ist ausgeschlossen. Bei aller Verehrung und Liebe für den greisen Monarchen und bei aller Treue hätte das allein Tisza nie umstimmen können. Mitgewirkt haben mag es, aber entscheidend kann doch nur die Berchtoldsche Darstellung der deutschen Politik auf ihn gewesen sein. Auch die mündlichen Berichte des a. o. Gesandten Ritter von Wiesner, der zur Untersuchung der ganzen Frage nach Sarajevo entsandt war, können auf Tiszas Entscheidung keinen Einfluß ausgeübt haben, da Wiesner erst am 14. Juli abends in Wien ankam.


    Während des Krieges blieb Tiszas Einfluß auf die auswärtige Politik ein außergewöhnlicher, wenn auch nicht immer entscheidender. Die Möglichkeit, die sich ihm 1915 bot, selbst Minister des Äußern zu werden, wies er zurück. Das tat er, nicht weil er sich für diese Aufgabe zu schwach fühlte, sondern weil er dann auf sein eigentliches Werk, den Neubau Ungarns, hätte verzichten müssen. Dies Argument besaß entscheidende Bedeutung. Vom heutigen Standpunkt aus dürfen wir sagen, er hätte damals besser getan, die Leitung der auswärtigen Politik der Monarchie zu übernehmen. Es war doch nicht möglich, wie er ursprünglich glaubte, diese von Budapest aus zu lenken. Schon rein technisch ging das nicht. Wichtige Depeschen sah er spät oder gar nicht. Forderungen, die er stellte, wurden nicht ganz so ausgeführt, wie er gewünscht hatte. Bei diesen Vorgängen kam es auf einzelne Worte, auf Nuancen an. Trotz der wirklichen Freundschaft zwischen ihm und Burián, der am 14. Januar 1915 zu Berchtolds Nachfolger ernannt worden war, erschien es begreiflich, daß dieser sich mit der Zeit von Tiszas Leitung emanzipierte. Vergleicht man die Anschauungen beider Männer in den verschiedenen Phasen der äußern Politik, so ist deutlich zu ersehen, daß Tiszas Ratschläge immer klüger, zweckmäßiger waren als die Buriáns, der, intelligent, aber schwunglos, grobe Fehler beging. Wäre Tisza von seinen übrigen Amtsgeschäften nicht so in Anspruch genommen gewesen, so hätte er der äußern Politik mehr Zeit widmen und auch in ihr seinen Willen stärker zur Geltung bringen können. Bei dem Übermaß an Arbeit, das auf ihm lastete, war das unmöglich. "Noch nie", bemerkt er einmal, "war der ungarische Ministerpräsident so sehr ein Mädchen für alles." In Sitzungen, von tausend Angelegenheiten unterbrochen, schreibt er seine Briefe an die Männer in Wien, setzt seine Politik auseinander, gibt Ratschläge. Auch in den Friedensjahren als Regierungschef hatte er im Abgeordnetenhaus stets Akten vor sich, in denen er arbeitete, horchte nur auf bei Reden, die ihm der Aufmerksamkeit wert schienen, um dann sofort mit der scharfen Waffe seiner Dialektik dem Gegner zu Leibe zu rücken. So richtig auch Tiszas Vorschläge bezüglich der Außenpolitik fast stets waren, er konnte deren Durchführung nicht überwachen. Fest steht, daß auch in seinen Gedanken über die auswärtige Politik seine starke Auffassung, die Entschlossenheit sich Geltung zu verschaffen, und zugleich ein ruhiges Abwägen der realen Verhältnisse sich bekundeten. Auch die Fähigkeit besaß er, eine außenpolitische Situation zu gestalten. War er auch nicht ein Außenpolitiker vom Range Graf Julius Andrássys d.Ä., so überragte er doch gleichfalls auf diesem Gebiete die übrigen Staatsmänner der Monarchie.


    Wir haben bisher versucht, Tiszas Rolle in der inneren Gestaltung Ungarns, die Grundzüge seiner Persönlichkeit und seine Haltung bei Kriegsausbruch darzulegen. Nun bleibt noch übrig, auf seinen Rücktritt als Ministerpräsident, auf die Zeit, die er im Felde verbrachte, und schließlich auf die Greueltat seiner Ermordung einzugehen.


    So sehr Tisza stets auf die Unterstützung Franz Josefs I. hatte zählen dürfen, so wenig konnte er auf das Vertrauen des Kaisers und Königs Karl rechnen. Manche Anzeichen deuten darauf hin, daß er in denselben Fehler gegenüber dem jungen Monarchen verfiel, wie Bismarck gegenüber Kaiser Wilhelm II. Im Bewußtsein der Verantwortung und der schweren Lage der Monarchie spielte er allzusehr den Mentor. Schlimmer war noch, daß beim neuen Monarchen von den verschiedensten Seiten gegen Tisza eifrig gearbeitet wurde. Die natürlichen Gegensätze zwischen dem jungen Herrscher, der das Neue wollte, und dem reifen Mann, der tiefer den Wert oder Unwert von Menschen und Dingen erkannte, kamen hinzu. Den Anstoß zur Demission Tiszas gab die Wahlreformfrage. Mit Entschiedenheit weigerte er sich, dem Verlangen des Monarchen zu entsprechen und dem Lande das allgemeine Wahlrecht zu geben.


    Sobald Tisza am 15. Juni 1917 zurückgetreten war, ging er als Kommandant eines Husarenregiments, dem er angehörte, an die Front. Für ihn war es keine Phrase gewesen, wenn er es verwünscht hatte, an den Schreibtisch gebannt zu sein und nicht in den Krieg ziehen zu können. So bietet er das seltene Beispiel eines Staatsmannes, der für die Sache, die er führte, auch mit der Waffe in der Hand eintritt. Seine Stärke in politischen Fragen und sein Wille, sich mit dem Feinde selbst zu messen, wurzelten in den gleichen Eigenschaften, in der Unerschütterlichkeit seiner Seele und in seiner Vaterlandsliebe. Als er bei der Truppe im Felde ankam, sagte er: "Endlich bin ich da." Alle Zeugnisse aus jener Zeit stimmen darin überein, daß er bewußt die Gefahr suchte. Jeden Tag ging er die Kampflinie ab. Nie berührte er eine andere Kost als die der Mannschaft. Auch als er an heftigem Fieber erkrankte, weigerte er sich, bessere Kost zu sich zu nehmen oder in ein Spital zu gehen. In Ruhepausen widmete er sich den privaten Angelegenheiten seiner Soldaten, schrieb für sie Briefe an ihre Familien, verwandte sich für deren Los in der Heimat. In dieser Handlungsweise offenbart sich sein Pflichtgefühl, seine einfache Menschlichkeit, sowie seine patriarchalische Gesinnung. Auch seinen Gutsbeamten gegenüber war er nicht der Brotgeber, sondern ein sorgender gerechter Vater.


    Im Jahre 1918 war allmählich die Lage der Monarchie, der Mittelmächte immer ernster geworden. Tiefste Sorge und Bangen um die Zukunft seines Vaterlandes erfüllten Tisza. Mahnend und flehend beschwor er die Nation, einig zu sein. Die Unbesiegbarkeit der deutschen Heere blieb ihm als letzte Hoffnung. Doch auch die deutschen Armeen mußten zurückweichen. Der schreckliche Zusammenbruch vollzog sich. Der Wahnsinn, der Unverstand rissen die Führung an sich. Die Zeit der politisch Unmündigen, der Narren, der Doktrinäre, der Streber, aber auch die Zeit der Sträflinge, der Mörder, war gekommen.


    Die gewaltigen Kräfte, die die schließliche Niederlage der österreichisch-ungarischen Monarchie herbeiführten, sollen in ihrer Bedeutung nicht verkannt werden. Noch weniger  soll behauptet werden, die Monarchie sei ein durchaus gesunder Staatskörper oder ihre aktiven Führer, außer Tisza und Conrad, seien hervorragende Männer gewesen. Auch die Verzweiflung des Volkes, das vier Jahre tapfer gekämpft und Entbehrungen gelitten hatte und nun die Vergeblichkeit des Ringens einsah, darf nicht außer acht gelassen werden. Kein Fehler, keine Vergehen, keine Unterlassung in der Vergangenheit soll beschönigt werden. Doch diese Behauptung muß aufgestellt werden: Ebensowenig wie es im Juli 1914 nötig gewesen wäre, den Krieg gegen Serbien zu erzwingen und jenen, die die Welt in Brand setzen wollten, selbst die Fackel zu reichen, ebensowenig mußte die Monarchie zertrümmert, mußte Ungarn zerstückelt und aufs tiefste gedemütigt werden. Wäre Tisza noch am Ruder gewesen, hätten die anderen Führer und der Hof in Wien nicht den Mut verloren, hätten sie erkannt, daß im Moment höchster Gefahr nur Entschlossenheit, nicht Nachgiebigkeit retten kann, so wäre nicht alles Unheil, aber die Katastrophe in ihrer ganzen Größe vermieden worden.


    Tisza befand sich im Oktober 1918 in Budapest. Von einem vertrauenswürdigen Mann, der ihn eines Tages besuchte, war ihm mitgeteilt worden, daß er am ersten Tage der bevorstehenden Revolution ermordet werden sollte. Diesen Umstand erfuhr man erst später, denn Tisza hatte davon seinen Angehörigen, um sie nicht zu beunruhigen, keine Mitteilungen gemacht. Daß Gefahr ihn bedrohte, lag in der Luft. Gegen ihn, der allgemein als der Urheber des Krieges galt, konnte die Menge am leichtesten aufgehetzt werden. Indes lehnte er jeden ihm angetragenen Schutz ab. Zum letztenmal sprach er im Parlament am 23. Oktober. Den 31. Oktober, den ersten Tag der Revolution, verbrachte er in seinem Hause. Wie sich später ergab, hat er noch an diesem Tag Dokumente vernichtet, die nicht etwa ihn, sondern andere Staatsmänner wegen ihrer Haltung bei Kriegsausbruch belasteten. Auf das Flehen seiner Angehörigen, Budapest wenigstens für kurze Zeit zu verlassen, erwiderte er: "Nie in meinem Leben habe ich mich versteckt. Wie ich gelebt habe, so werde ich auch sterben." Um 16 Uhr nachmittags stürmt eine Menge gegen sein Haus vor. In die Halle des Hauses kommen vier Leute. Tisza tritt ihnen, begleitet von seiner Frau und seiner Nichte, den Revolver in der Hand entgegen. Nach kurzem Wortwechsel legt er den Revolver nieder. Die vier Individuen heben ihre Gewehre und schießen. Tisza bricht zusammen. Seine letzten Worte sollen gewesen sein: "Das mußte so kommen."


    Die Behauptung ist aufgestellt worden, Tisza hätte seinem Vaterland mehr genützt, wenn er sein Leben gerettet und in der schweren Nachkriegszeit der Nation ein Führer geworden wäre. Doch eine so rein mathematisch-rationalistische Einstellung gegenüber der Gewalt des Schicksals, gegenüber der Größe des menschlichen Lebens, der Charaktere, die es bildet, der Ereignisse, die es erzeugt, ist nicht am Platze. Zwei Welten, die des alten Ungarn und die der Revolution, stießen im chaotischen Ende des Weltkrieges anein­ander, vorübergehend siegte die Revolution, und der größte Mann des alten Staates fiel. Das Heldenhafte, das Große in Tisza hatte damit seine Weihe empfangen. Man wußte immer, daß er den Tod nicht fürchte, aber ins Heroische, Legendäre wuchs seine Gestalt erst durch seine auch dem unerbittlichen Ende gegenüber bewiesene Unerschütterlichkeit.


    Tiszas Tod gibt in Wahrheit nur die Quintessenz seines Lebens. Er starb wirklich ganz wie er gelebt, ohne jede Pose, und als wolle er der Nation auch darin ein Beispiel geben, wie man bewußt, pflichttreu und furchtlos bis zum letzten Atemzug dem Vaterland und allem, was heilig sei, dienen müsse. Solch ein ins Große gesteigertes Leben und ein solcher Tod bilden einen unermeßlichen moralischen Schatz für ein Volk.